Wie kommt die Transformationsbewegung in Kraft und Sichtbarkeit?

Fünf Erkenntnisse vom „Summit der lebendigen Gesellschaft", ausgerichtet von Reinventing Society.

Vier Tage, 45 Pionier:innen, ein visionäres Anliegen: Anfang Mai trafen wir uns auf dem Gelände von „Wir Bauen Zukunft“ um gemeinsam zu erforschen, wie das Feld der sozial-ökologischen Transformation – mit all seinen Lösungen, Projekten und Ideen – mehr Strahlkraft und Wirksamkeit entfalten kann.

Denn bislang bringt die Bewegung all der Change Maker und Wandel-Pionierinnen zwar zahlreiche innovative Projekte, Ideen und Antworten hervor – diese bleiben aber oft unbekannt, unterfinanziert, treten unsicher auf oder ringen vergeblich um Aufmerksamkeit im Mainstream. Zudem ist die Bewegung zersplittert und viele Akteure sind überfordert oder ausgebrannt. Im gemeinsamen Forschungsraum entstanden fünf Erkenntnisse, mehr Kraft und Sichtbarkeit zu erschließen:

1 | Der re:nature-Kompass schenkt Orientierung und verbindet

Ein zentrales Element beim Summit war der Re:nature Kompass nach David und Ursula Seghezzi vom uma Institut. Das Modell basiert auf dem natürlichen Zyklus der Jahreszeiten und hilft, natürliche Rhythmen und zyklische Muster zu erkennen und sich darin zu verorten. Es ermöglicht damit Orientierung – im eigenen Leben, in Projekten, und auf gesellschaftlicher Ebene.

Jede Jahreszeit beschreibt dabei sowohl eine zyklische Phase, als auch Grundqualitäten:

Frühling Zyklische Phase: Neubeginn, Keimung, erste Impulse, Visionen Grundenergie: Inspiration, Experimente, Neugier, Aufbruch, spielerische Pionierkraft

Sommer Zyklische Phase: Entfaltung, Reifung, Blühen, Verantwortung übernehmen Grundenergie: Umsetzungskraft, Gemeinschaftsbildung, Klarheit, Wirksamkeit, Fülle

Herbst Zyklische Phase: Ernte, Rückblick, Integration, Dankbarkeit, Abschluss Grundenergie: Sortierung, Ordnung, Reflexion, Heilung, Wertschätzung, Loslassen

Winter Zyklische Phase: Rückzug, Stille, Leere, Regeneration, Sterben und Neuorientierung Grundenergie: Tiefe, Erdung, Intuition, Nichtwissen, Spiritualität, Verbindung zur Quelle

Die Bewegung für gesellschaftlichen Wandel steht derzeit kollektiv an der Schwelle von der Jugend des Frühlings ins Erwachsenwerden des Sommers. Viele haben ausprobiert, initiiert, geforscht. Nun geht es darum, in Kraft zu kommen, Projekte zu verankern und Wirkung zu zeigen. Für gelingende Übergänge braucht es Initiationen und der Summit fühlte sich für einige von uns wie eine solche an. Passenderweise ist der 1. Mai, der Mittelpunkt unseres Summits, nach dem alten Kalender der Übergang vom Frühling in den Sommer – eine stimmige Fügung, die uns im Nachhinein bewusst wurde.

Gleichzeitig steht die dominierende westliche Gesellschaft an der Schwelle vom Herbst in den Winter: Ihr Höhepunkt liegt hinter ihr, alte Strukturen müssen gewürdigt und losgelassen werden. Aus dieser Perspektive braucht es für manche Konzerne und Bürokratien vielleicht weniger frische Ideen und Innovationen, sondern stattdessen Angebote zum Runterfahren und zur Ruhe kommen.

Der re:nature-Kompass hilft nicht nur, zyklische Entwicklungen zu verstehen, sondern auch die Balance der unterschiedlichen Qualitäten zu untersuchen und einzuordnen. Auch für die Wandelbewegung braucht es alle Qualitäten gleichzeitig in guter Balance – Verwurzelung, Inspiration, Umsetzungskraft und Ordnung. Unsere jeweiligen Wirkungsfelder auf dem Kompass einzuordnen, half uns, die Vielfalt unserer Rollen zu würdigen und uns individuell zu verorten. Wir ergänzen uns, brauchen einander, und halten uns gegenseitig den Rücken frei. Niemand muss (und kann) allein die Welt retten – jede Qualität wird gebraucht, in ihren jeweiligen Phasen und Kontexten. Dieses Erkennen des eigenen Platzes im größeren Gefüge schuf ein starkes Gefühl von Eingebundenheit und Orientierung. Wir stellten auch fest, dass in der Mitte unseres Rades ein Raum offen steht, um die gemeinsame Vision zu definieren und eine „Story of us“ zu finden. Hier deutet sich das Potenzial an, von einer zersplitterten zu einer geeinten Bewegung zu kommen.

Reflexions-Impuls: Wie verbunden bist du mit natürlichen Zyklen? Welche Qualitäten des Kompass sind bei dir lebendig – und welche rufen nach mehr Raum?

2 | Eine lebendige Kultur synchronisiert und bestärkt

In unserer westlichen Kultur ist zwischenmenschlicher Kontakt oft geprägt von Schnelllebigkeit, Fragmentierung und mentaler Überfrachtung. Oberflächlicher Smalltalk, rein kopflastige Gespräche und stressige Umgebungen erschweren tiefere Begegnung und hindern echten Austausch. Viele von uns haben daher gelernt, ihre Bedürfnisse und Visionen herunterzuschlucken, um in einem Umfeld akzeptiert zu werden, das nicht ihrer inneren Wahrheit entspricht. Diese ständige Anpassung kostet Kraft und führt zu Resignation und Erschöpfung.

Beim Summit schufen wir im Gegensatz dazu bewusst eine „lebendige Kultur“ des Miteinanders, die tiefe Begegnungen und authentischen Ausdruck ermöglichen sollte. Dies bedeutete unter Anderem:

  • Als ganzer Mensch willkommen sein: Körper, Gefühle, Herz und Verstand sind gleichermaßen eingeladen.

  • Beziehung zuerst: tägliche Check-ins, Austausch-Kleingruppen, gemeinsame Rituale und Musik schufen Verbindungen und ein gemeinsames Wir-Gefühl.

  • Der Energie folgen: Unsere Agenda entstand spontan und emergent aus den Impulsen des Feldes und der Frage: „Was macht uns lebendig?“.

  • Spannungen willkommen heißen: Konflikte wurden bewusst als Impulsgeber und Wachstumschance gesehen und nicht unter den Teppich gekehrt.

  • Lebendige Umgebungen: Gesundes Essen, vielfältige Natur, ästhetische Bauweisen, Ruhe und Schönheit ermöglichten ein entspanntes Nervensystem, Offenheit und Inspiration.

Im diesem Rahmen erlebten viele Teilnehmende ein persönliches Aufblühen und tiefe Verbundenheit mit anderen. Ein Heimat-Gefühl entstand, das Leichtigkeit, Kraft und Inspiration freisetzte. Die meisten reisten deutlich erholter, zentrierter und energievoller ab, als sie ankamen – „trotz“ 4 Tagen intensivem Summit-Programm.

„Wir haben die bewusste und lebendige Gesellschaft im konkreten Rahmen vor Ort für uns erlebt und manifestiert. Wir haben unsere erträumte Zukunft gemeinsam erschaffen.“ Thomas Zimmermann

Das war nicht nur angenehm. Es kam auch zu der Frage, warum wir uns als selbsternannte Wandelbewegung das Privileg herausnehmen uns in einen geschützten Raum zurückzuziehen und gemeinsam eine „gute Zeit“ zu haben, in Anbetracht der multiplen Krisen, die es zu überwinden gilt. Haben wir ein All-Inclusive-Ressort für Systemaussteiger:innen kreiert? – Ganz und gar nicht. Wir haben realisiert, dass ein Kernproblem und Misserfolg der Wandelbewegung in ihrem häufig selbstausbeuterischen Aktivismus bzw. dem erhobenen moralischen Zeigefinger der selbstlosen Weltverbesserung liegt. Doch nur wenn wir gut zu uns selbst sind, im Kontakt mit unseren Gefühlen und Bedürfnissen, können wir auch Gutes in der Welt bewirken. Das, was uns erfreut und verwöhnt, ist nicht Konsum, Luxus oder Rausch, sondern Gemeinschaft, Liebe und tiefer Austausch. Vielleicht leben und erleben wir damit bereits „die Lösung“.

Diese Erfahrung verdeutlichte, dass wir uns als Transformationsbewegung im falschen Kulturrahmen nur schwer erkennen, entfalten und verbinden können. Es braucht daher viel mehr Orte und Formate einer lebendigen Kultur, in der wir gemeinsam aufblühen und Kraft schöpfen können.

Reflexions-Impuls: In welchem kulturellen Rahmen hältst du dich überwiegend in Beruf und Alltag auf? Inwieweit kannst du dich darin entfalten? Wie und wo kannst du dir einen noch dienlicheren Rahmen für dich schaffen?

3 | Unsichtbares sichtbar machen setzt Energie frei

Auf dem Summit schufen wir einen Raum, in dem Unsichtbares eingeladen wurde, sich zu zeigen: Scham über Geld, Wut auf die Kraftlosigkeit der Bewegung, Ängste vor gesellschaftlichem Kollaps, Freude, Liebe und Hoffnung. Deutlich wurde, dass viele Teilnehmende geteilte Verletzungserfahrungen tragen: Das Gefühl, mit ihren Bedürfnissen und Anliegen nicht gehört oder gesehen zu werden, nicht in diese Welt hineinzupassen oder Orientierungslosigkeit zu erleben. Als diese Gefühle Raum bekamen, geschah Transformation. Blockierte Energie kam in Fluss, neue Perspektiven entstanden und Zuversicht wuchs.

Das Thema Sichtbarkeit hat viele Dimensionen: Stimme, Körper, Ausdruck aber auch die eigene Onlinepräsenz oder das Marketing für die eigenen Angebote. Um hier in Kraft und Sichtbarkeit zu kommen, braucht es sichere Räume und Formate, in denen Gefühle, innere Anteile und Fähigkeiten, die üblicherweise zurückgehalten werden, ausgedrückt, sichtbar gemacht und gezielt entwickelt werden können. Durch lebendigen Austausch können wir somit voneinander lernen und miteinander wachsen, sodass sich Ängste und Unsicherheiten in Klarheit und Umsetzungskraft verwandeln.

Reflexions-Impuls: Wo hältst du dich zurück und zeigst dich nicht – aus Angst, Gewohnheit oder alten Mustern? Was in dir möchte mehr gesehen werden? Wo könntest du dafür Raum finden oder schaffen?

4 | Das Potenzial gemeinsamer spiritueller Verwurzelung mit der Erde

Das materialistische Weltbild der Moderne betrachtet die Erde als toten Materieball – Natur als Ressource, nicht als Gegenüber. Viele Menschen in der Transformationsszene hingegen erleben intuitiv oder durch eigene Praxis die Erde als lebendig, intelligent und zutiefst verbunden mit allem Leben. Doch diese Weltsicht bleibt häufig unsichtbar – aus Angst, als irrational, naiv oder unwissenschaftlich abgestempelt zu werden.

Was wäre, wenn genau hier ein bislang ungenutztes Potenzial liegt? Wenn wir nicht nur aus Problembewusstsein handeln, sondern aus Liebe zur Erde, aus echter Verbindung mit der lebendigen Welt, dann verändert sich nicht nur unser Handeln, sondern auch unsere Strahlkraft. Eine Bewegung, die offen zu ihrer Erdverbundenheit steht, kann tiefer wurzeln, stärker wirken und neue Menschen berühren, die sich bislang nicht angesprochen fühlten.

Praktiken wie Naturkontakt, Stille, Dankbarkeit, bewusste Übergangsrituale oder Jahreskreisfeste können diese Verbindung erfahrbar machen und uns im Alltag unserer Wurzeln und Ursprünge besinnen. Solche einfachen Formen erfordern keine einheitliche Spiritualität, sondern schaffen spirituelle Tiefe ohne Dogma – sie stärken unser Gefühl von Zugehörigkeit und unsere Fähigkeit, mit der Erde in Beziehung zu sein.

Wie sich eine gemeinsame spirituell-weltanschauliche Verwurzelung weiter entfalten kann – ohne ins Esoterische oder Exklusive zu kippen – bedarf weiterer Erkundungen und Schärfungen. Doch der Wunsch nach einem gemeinsamen inneren Fundament, das über rationale Argumente hinausweist, ist spürbar. Und vielleicht ist genau das die Grundlage, auf der eine neue Kultur des Wandels wachsen kann.

Reflexions-Impuls: Wie ist deine Verwurzelung mit der Erde? Inwieweit zeigst du anderen deine Weltanschauung oder spirituelle Praxis? Wie wäre es für dich, hierbei Gemeinschaft und Eingebundenheit zu finden?

5 | Von der Szene zur Bewegung – mit gemeinsamer Ausrichtung und neuer Führung

In den letzten Jahrzehnten sind zahlreiche Initiativen für gesellschaftlichen Wandel entstanden: für ökologische Nachhaltigkeit, ein gerechteres Wirtschaftssystem, neue Formen des Lernens, für Menschenrechte, Frieden und Verbundenheit. Doch diese vielfältigen Ansätze wirken bislang oft nebeneinander und ohne gemeinsame Ausrichtung. Es fehlt eine gemeinsame Erzählung, ein verbindender Purpose, der die Einzelimpulse in eine größere Bewegung integriert. Was meinen wir, wenn wir von gesellschaftlicher Transformation sprechen? Woran erkennen wir, dass wir auf dem richtigen Weg sind? Welche gemeinsamen Visionen tragen uns?

Ein solcher Purpose verlangt auch nach Akteur:innen, die in Führung gehen – nicht dominant, sondern dienend. Führung, die sich ihren blinden Flecken stellt, die Orientierung gibt, Räume hält und das Ganze im Blick behält. Gerade in stürmischen Zeiten braucht es Menschen, die aus Verbundenheit heraus Verantwortung übernehmen und Bestärkung und Zuversicht schenken.

Gleichzeitig ist Führung in Deutschland mit Misstrauen und kollektiver Vorsicht belegt. Verständlich angesichts unserer Geschichte. Gerade in der Transformationsszene scheuen sich daher viele, Führung zu übernehmen, sich einer Führung anzuschließen oder fürchten Machtmissbrauch anderer. Es braucht daher eine bewusste Auseinandersetzung der Transformationsbewegung mit Führung und Macht. Nicht als Reinszenierung alter Muster – sondern als bewusste Kulturpraxis einer Bewegung, die Führung neu denkt und verkörpert.

Gleichzeitig ist Führung in Deutschland mit Misstrauen und kollektiver Vorsicht belegt – verständlich angesichts unserer Geschichte. Besonders in der Transformationsszene herrscht eine tiefe Skepsis gegenüber Macht: Viele fürchten, durch das Ausüben von Führung ungewollt in autoritäre oder manipulative Muster zu rutschen – und halten sich deshalb lieber zurück. Aus Angst, Teil des Problems zu sein, überlassen sie damit tragischerweise Führung und Macht oft „dem System“.

Es braucht daher eine bewusste Auseinandersetzung der Bewegung mit Macht und Führung – nicht als Reinszenierung alter Muster, sondern als kulturelle Reifung. Als Einladung, Verantwortung zu übernehmen und neue Formen von Führung zu verkörpern: transparent, dienend, verbindend.

➡️ Reflexionsimpuls: Was ist dein innerer Purpose – und wie ist er mit dem größeren Feld verbunden? Wem überlässt du Führung und wo übernimmst du Führung?

Wie weiter?

Nach dem Summit ist vor dem Summit: Die kraftvolle Resonanz auf unser erstes Zusammenkommen hat uns ermutigt, weitere Räume für Verbundenheit, Bestärkung und gemeinsame Ausrichtung zu öffnen. Klar wurde dabei auch: Wenn die Transformationsszene wirksam werden will, muss sie sich den Themen Macht und Führung neu zuwenden und dafür braucht es sichere Räume, in denen wir einen heilsamen Zugang dazu entwickeln können.

Der nächste Summit findet daher zum Thema „Führung. Macht. Wandel.“ vom 17.–21. September 2025, erneut bei „Wir Bauen Zukunft“ statt. Viele der hier beschriebenen Erkenntnisse werden darin weiter vertieft, erprobt und verkörpert. Mehr Infos hier.

Ein Dokumentationsfilm zum Summit und den Prinzipien einer lebendigen Kultur ist ebenfalls in Arbeit.

Bis dahin – lasst uns das Feld nähren, verbinden und gemeinsam sichtbar werden!