Stell dir vor, Unternehmen wären Orte der Selbstverwirklichung, der Selbstbestimmung und der Erfüllung gesellschaftlicher Verantwortung.
Stell dir vor, Schulen wären Orte der Begeisterung, Weisheit und Neugier.
Stell dir vor, öffentliche Behörden wären Orte der menschlichen Wärme, der Verantwortung und der Effektivität.
Was ist nur los mit den heutigen Organisationen, dass die obigen Attribute nicht so richtig zu ihnen passen wollen?
Stattdessen haben internationale Konzerne Bürokratien und Hierarchien, deren Ausmaße fast schon vergleichbar sind mit den Strukturen sowjetischer Planwirtschaft. Ein Bekannter hat mir kürzlich anvertraut, dass eine interne Studie seines Arbeitgebers, eines großen deutschen Konzerns, ergeben habe, dass stolze 70% der Arbeitsprozesse unproduktiv seien (wie auch immer das gemessen wurde...).
Derweil sind in den USA gemäß einer Gallup Umfrage ganze 66% aller Arbeitnehmer unzufrieden mit ihrer Arbeit. Das Ergebnis sind weit verbreitete Depressionen und Burnouts und daher graut es vielen jungen Absolventen bei der Vorstellung, sich in ein traditionelles Arbeitnehmerverhältnis zu begeben.
Wie großartig und befreiend wäre es hingegen, wenn unsere Unternehmen, Schulen und Behörden so wären wie oben beschrieben. Gewaltiges gesellschaftliches Potenzial könnte sich unter solchen Bedingungen entfalten und zur Bewältigung der Herausforderungen unserer Zeit beitragen!
Doch wie nur können wir unsere Organisationen so umbauen, dass dieses Potenzial endlich freigesetzt wird?
Seit einiger Zeit beschäftigt mich diese Thematik und in diesem Artikel möchte ich meine Vision in Worte fassen und umschreiben, wie eine neue Ära sinnstiftender Organisationen aussehen kann.
Mein eigener Bezug zum Thema
In den letzten zwei Jahren habe ich mich sehr stark für zwei gemeinnützige Organisationen engagiert, die Monetative e.V. und das Netzwerk für Plurale Ökonomik e.V. und fand es dabei ziemlich spannend, die jeweiligen Stärken und Schwächen abzugleichen und funktionale Strukturen und Ansätze von der einen in die andere Organisation zu übertragen. Insbesondere beim Netzwerk lernte ich viele interessante und innovative Methoden kennen, die ich abschauen und bei der Monetative einführen konnte. Doch beim Entscheidungsverfahren á la Konsensprinzip mit Veto kriselte es im Studentennetzwerk und führte mehrfach zu schwelenden Konflikten und frustrierendem Stillstand. Zwar gab es einige Ideen und Diskussionen, wie wir unser Entscheidungsverfahren modifizieren könnten, z.B. durch einen stärkeren Vorstand oder durch die Einführung eines Entscheidungskomitees mit Mehrheitsverfahren, aber so richtig überzeugte mich das nicht.
Auf der Suche nach anderen Lösungen flog mir vor gut einem Jahr dann jedoch ein Buch in die Hände, das mich zutiefst inspirierte: "Reinventing Organizations" von Frederic Laloux. Selten war ich beim Lesen eines Buches derart aufgeregt. Schon beim Vorwort hatte ich das Gefühl, hier die Lösung, die Anleitung, den Bauplan für all unsere Organisationsprobleme in den Händen zu halten. Doch Laloux gab mir nicht nur Lösungen, sondern er pflanzte mir eine Vision ein, die eine tiefe Sehnsucht in mir berührte.
Drei neue Prinzipien
In "Reinventing Organizations" beschreibt Laloux einige inspirierende Fallbeispiele höchst erfolgreicher Organisationen aus verschiedensten Branchen und Ländern, die völlig neue Wege gehen und damit das traditionelle Denken über den Aufbau von Organisationen in Frage stellen. Dabei kristallisieren sich insbesondere drei Prinzipien heraus, denen diese Organisationen folgen:
Erstens Selbstorganisation durch flexible Rollen, Selbstverantwortung und Freiheit anstelle von starren Hierarchien, Bürokratien und Regularien. So ist es in diesen Organisationen üblich, dass alle Mitarbeiter prinzipiell alle Entscheidungen treffen können, sofern Sie potenzielle Einwände von allen Betroffenen berücksichtigen; dass Aufgaben und Positionen flexibel verteilt und gemeinsam bestimmt werden und dass Mitarbeiter teilweise ihre Chefs selber wählen oder sogar ihr Gehalt selber bestimmen können. Das Credo ist jedoch nicht der Wegfall jeglicher Struktur sondern deren explizit flexible und dynamische Ausgestaltung.
Zweitens Ganzheitlichkeit, sodass der ganze Mensch mit allen Bedürfnissen, Wünschen und Eigenschaften bei der Arbeit willkommen ist und nicht mehr nur eine "professionelle" Fassade. Nicht unüblich sind gemeinsame Meditationen, Kinder oder Hunde am Arbeitsplatz sowie Meetings die mit authentischen Aussprachen gegenseitiger Wertschätzung beginnen. Dies geht auch einher mit sehr viel kreativeren und gemütlicheren Büroräumen, generell mehr Wärme im Umgang miteinander und mündet in der Freisetzung von höchster Kreativität.
Drittens Sinnhaftigkeit im Sinne des Strebens nach einem gemeinsamen, tieferen Organisationszweck und der Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung statt dem traditionellen Fokus auf Profitmaximierung. Dieser tiefere Sinn wird dabei im Optimalfall von allen Mitarbeitern und Stakeholdern gemeinsam bestimmt und setzt erhebliche Motivation und Fokussierung auf das große Ganze frei (statt nur auf die eigenen Quartalszahlen).
Ein sehr interessantes Beispiel für ein Unternehmen, das solch ungewöhnliche Wege geht, ist Morningstar, der größte Tomaten-Verarbeiter in den USA. Bei Morningstar:
- gibt es keine Chefs, Job-Titel oder Beförderungen, stattdessen verhandeln die Mitarbeiter ihre Arbeit und Pflichten selbstständig mit ihren Kollegen aus
- kann jeder eigenverantwortlich Geld für Anschaffungen ausgeben, denn jeder Mitarbeiter ist auch selber dafür zuständig sich alle benötigten Arbeitsmaterialien zu beschaffen.
- werden Entscheidungen über Gehälter in Rücksprache mit Kollegen eigenständig getroffen.
(Eine empfehlenswerte, ausführlichere Beschreibung zu Morningstar findet sich hier.)
Der Kontext gesellschaftlicher Evolution
Die Beschreibung dieser neuen Stufe von Organisationen ist eingebettet in das höchst interessante "Spiral Dynamics" Modell, welches menschliche und gesellschaftliche Entwicklung beschreibt. Eine kleine veranschaulichende Übersicht zur Evolution von Organisationen habe ich im Bild rechts erstellt. Weitere Grafiken finden sich hier und hier.
Demgemäß ist "orange" der gegenwärtige Organisations-Mainstream und gekennzeichnet von einem Denken in Begriffen wie Effizienz, Innovation & Anreizen sowie klaren, messbaren Zielvorgaben. Die "grüne" Stufe kann gewissermaßen als Gegenbewegung verstanden werden, die Wert legt auf mehr Menschlichkeit, Gleichberechtigung, Dialog und Wärme, vertreten vor allem im gemeinnützigen und sozialen Bereich. Das was Laloux als neue Stufe beschreibt ist "türkis" (="teal", bzw. in der zweiten Grafik die Stufen über grün). Es würde den Rahmen sprengen, hier genauer auf das Spiral Dynamics Modell einzugehen, aber ich kann diese Zusammenfassung sehr empfehlen.
Höchst interessant fand ich an diesem Entwicklungsmodell vor allem die Beschreibung der Schwächen "grüner" Organisationen, welche ich aus meiner persönlichen Erfahrung nur zu gut kannte - man denke hier an zwanghafte Gleichmacherei, political correctness und zermürbende Diskussionen über alles und jedes. "Grüne" Organisationen sind wie eine Familie und in Familien gibt es Gemeinschaft und Wärme aber nun mal auch Spannungen und Konflikte. Während Mitarbeiter in traditionellen "orangen" Organisationen wie Teile in einer Maschine funktionieren müssen und ihre Menschlichkeit kaum anerkannt wird, so pendelt "grün" in ein anderes Extrem und schafft sich damit neue Probleme. In der Wirtschaftswelt konnte "grün" daher bisher nur begrenzte Erfolge gegen "orange" erzielen. In der neuen Stufe "türkis" hingegen werden beide Perspektiven integriert und die jeweiligen Probleme damit transzendiert. Ganz nach dem Motto: "It's not either or, it's both and more!"
Möglich wird dadurch Menschlichkeit UND Produktivität, Sinnhaftigkeit UND Profit, Struktur UND Flexibilität. Statt einer kalten Maschine oder einer zerstrittenen Familie lässt sich diese Stufe als ein lebender Organismus umschreiben.
Gesellschaftliche Implikationen
Traditionelle Organisationen hatten ihre Zeit und ihre Berechtigung. Ihnen verdanken wir Smartphones, weltumspannende Netzwerke der Produktivität und enormen technologischen Fortschritt. Doch wir stehen an einem Punkt, an dem die Gesellschaft nicht noch mehr billige Konsumgüter braucht, sondern mehr Menschlichkeit, Sinn und Verbundenheit.
Eine neue Ära von Organisationen hat das Potenzial, unsere Gesellschaft in jeder Hinsicht zu verändern:
Aus Berufen können Berufungen werden.
Aus kühlen, sterilen Büros können Orte der Begeisterung, Kreativität und Wärme werden. Statt Mitarbeiter mit Anreizen und Boni motivieren zu müssen, brauchen "türkise" Organisationen ihre Mitarbeiter lediglich von den Fesseln starrer Hierarchien und Bürokratien zu befreien, damit diese ihre Fähigkeiten und Gaben dem höheren Zweck der Organisation widmen können.
Und selbst der Wettbewerb als zentrales Prinzip unserer Wirtschaftsordnung könnte transzendiert werden. Denn wenn eine Organisation ein höheres Ziel verfolgt als Profit, dann sind andere Organisation mit dem gleichen Ziel keine Konkurrenten, sondern Partner. Und mit Partnern kooperiert man. Genau das macht etwa Buurtzorg, ein niederländisches Unternehmen für Tagespflege, das innerhalb weniger Jahre 70% Marktanteil erreicht hat und dessen Geschäftsführer für die verzweifelten Wettbewerber gratis Vorträge hält, wie sie das Erfolgskonzept kopieren können. Dieser Erfolg liegt in selbstorganisierten Teams und dass die Mitarbeiter sich Zeit nehmen dürfen, um mit ihren betagten Klienten Tee zu trinken und sich zu unterhalten, statt wie sonst üblich ihre Arbeit nach strikt-getaktetem Zeitplan verrichten zu müssen. Entgegen traditioneller Erwartungen haben diese Prinzipien dazu geführt, dass die Kosten sich fast halbiert haben, etwa weil Klienten anfangen, wieder mehr eigene Verantwortung zu übernehmen und in diesem Umfeld schneller wieder gesund werden (hier ein vertiefender Artikel zu Buurtzorg).
Natürlich ist der Wandel von Organisationen untrennbar mit der Evolution des menschlichen Bewusstseins verwoben. Doch mir scheint, dass wir uns an einem Zeitpunkt befinden, an dem unsere Organisationen den Fähigkeiten und Bedürfnissen vieler Menschen hinterherhängen und uns aufhalten, statt unser Wachstum zu befördern. Neue "türkise" Organisationen hingegen können in ihrem Umfeld Räume öffnen, um Wachstumsprozesse zu ermöglichen und zu beschleunigen statt zu bremsen.
Trotzdem mag nicht jeder dafür bereit sein. Wer 30 Jahre am Fließband gearbeitet hat, wäre in solch offenen, eigenverantwortlichen Strukturen wahrscheinlich überfordert.
Und auch nicht für alle Organisationen ist ein Wandel zu "türkis" gleichermaßen denkbar. Manche Branchen sind eher dafür prädestiniert als andere und manche Manager eher aufgeschlossen für neue Wege als andere. So wie sich auch die verschiedenen inneren Anteile der meisten Organisationen aus den unterschiedlichen Stufen zusammensetzen, so lässt sich auch die Wirtschaftswelt als bunter Mix beschreiben aus "rot", "orange", "grün" und neuerdings eben auch "türkis". Wenn der Wandel in den nächsten Jahren fließend voranschreitet, wird sich dieses Farbspektrum zugunsten von "türkis" mehr und mehr verschieben. Fraglich ist jedoch, inwieweit bestehende Organisationen und Konzerne zum Wandel fähig und willens sein werden, oder ob frische, neue Organisationen aus dem Boden sprießen und das Alte verdrängen werden.
Doch mir erscheint es offensichtlich, dass wir uns an einem Punkt befinden, an dem der Zenit des alten Systems überschritten ist und die alten Narrative immer mehr zusammenbrechen. Für die meisten Menschen ist das Neue derweil noch im Nebel verborgen und die Gesellschaft hängt wie zwischen den Welten - ein äußerst verunsichernder, irritierender Zustand. Doch das Neue steht vor dem Durchbruch, wie ein Ei, dessen Schale schon Risse hat und erste Einblicke in das gewährt, was kommen wird.
Im letzten Jahr habe ich genau diese Einblicke bekommen und das riesige Potenzial in unserer Gesellschaft gesehen. Und ich sehne mich danach, dieses Potenzial endlich in Entfaltung zu erleben.
Vor gut zwei Monaten traf mich daher schließlich der Impuls, selber daran mitzuwirken, diese neue Ära sinnstiftender Organisationen in die Welt zu tragen. Nachdem ich in meinem Umfeld erfolgreich ein paar entsprechende Anregungen geben konnte, habe ich mittlerweile meine Anmeldung als selbstständiger Organisationsberater beim Finanzamt eingereicht und mein erstes offizielles Beratungs-Projekt abgeschlossen. Ich bin gespannt, was die nächsten Monate bringen werden, aber zurzeit sieht es nach einem guten Start aus.
Es scheint, dass Laloux mit Reinventing Organizations eine Revolution angestoßen hat. Entsprechende davon inspirierte Initiativen und Organisationen schießen überall aus dem Boden und Organisationsdesign ist ein verdammt heisses Thema geworden. In Berlin gibt es fast täglich Veranstaltungen und Meetups dazu und ich habe den Eindruck, dass eine Parallelwelt zu traditionellen Beratungsunternehmen am Entstehen ist.
Natürlich ist es Spekulation, wie der Wandel am Ende aussehen wird und ob er die erhofften Früchte bringen kann (oder ob die Gesellschaft vorher in einem Atomkrieg untergeht...) aber es keimt eine Vision. Und was könnte am Ende mächtiger sein, als die Kraft der Ideen und der Hoffnung?
Weiteres zum Thema:
Reinventing Organizations - das besagte Buch von Frederic Laloux. Ein kostenfreier Download via "pay what feels right" ist auf der Homepage möglich. Es gibt mittlerweile auch noch eine gekürzte Version mit sehr anschaulichen Illustrationen. Hier gibt es auch ein Video von einem entsprechenden Vortrag des Autoren.
Thank God it's Monday - ein kurzweiliges Buch, das sehr überzeugend aufzeigt, wie es anders geht anhand der Erfahrungen der Berliner Agentur "Dark Horse", welche von 30 junge Menschen gegründet wurde.
"Spiral Dynamics, die Entwicklung von Wertesystemen" - Eine sehr gelungene Einführung in das Spiral Dynamics Entwicklungsmodell, sehr empfehlenswert.
Intrinsify.me - "Think Tank und das führende Netzwerk für die neue Arbeitswelt und moderne Unternehmensführung", interessanter Blog und regelmäßige Veranstaltungen in ganz Deutschland zum Vernetzen mit Gleichgesinnten.
EnliveningEdge.org - Plattform, Magazin und Blog zum Thema "next stage organizations".
positivesharing.com - empfehlenswerter Blog zum Thema Arbeit; sehr inspirierende und kurzweilige Posts.
"First, Let’s Fire All the Managers" - sehr anregender Blogpost am Beispiel von Morningstar