Mit 14 Pionier:innen begaben wir uns an einem außergewöhnlichen Zukunftsort auf eine experimentelle Forschungsreise in die lebendige Gesellschaft. So startete eine Woche voller Zusammenarbeit, ehrlicher Begegnungen und kreativer Impulse, begleitet von Natur, Bewegung und Musik. In dieser kleinen Gemeinschaft erfuhren wir die Kraft des Schenkens, Heilungsmomente und Herausforderungen, die uns halfen, neue Formen von Führung und Zusammenarbeit zu erkunden – inklusive einer spontanen „Revolution“
Ein vielfältiges Programm voller Tiefe und Vielfalt
Am Rand eines Waldes wartete die symbolische Schwelle. Mit einer Mischung aus Vorfreude und Nachdenklichkeit wagten alle den Schritt in die lebendige Gesellschaft: die Reisegruppe war aufgebrochen. Geplant waren lediglich grobe Tagesstrukturen wie morgendliche Runden und übergeordnete Themen (1. Individuum, 2. Gesellschaft, 3. Natur). Der Rest des Programms formte sich spontan, geleitet von den Bedürfnissen und Impulsen der Gruppe. Auf diese Weise gestaltete sich die Woche durch die Teilnehmenden selbst und brachte viele ungewöhnliche Erlebnisse und unterschiedliche Aspekte von Lebendigkeit hervor.
Ein Geschenkkreis machte deutlich, wie viel jede Person auf ihre ganz eigene Weise zu geben hat und wie wichtig es ist, diese Fülle zu teilen. Eine Kakaozeremonie, inspiriert von alten Ritualen aus Südamerika, öffnete den Raum für emotionale Prozesse. Beim „Biokratie-Parlament“ bekamen auch Bäume, Moos und Tiere eine Stimme, um die Perspektive auf das Leben zu erweitern. Reflexionsrunden halfen, das Erlebte zu integrieren. Abends saßen wir gemeinsam am Lagerfeuer, in der Sauna oder schwitzten in einer zeremoniellen Schwitzhütte. Musik, Klang und Gesang begleiteten uns die ganze Woche.
Die Kunst der Ko-Kreation
„Ich habe noch nie eine so liebevolle, zugewandte Prozessarbeit in einer Gruppe erlebt wie bei dieser Reise.“
Wo Menschen zusammenkommen, gibt es auch Spannungen. Wie wollen wir als Gruppe gemeinsame Entscheidungen treffen? Was passiert, wenn unterschiedliche Erwartungen und Wünsche aufeinandertreffen? Unterschiedliche Bedürfnisse führten zu Diskussionen, zum Beispiel über den Zeitpunkt und die Dauer einer zeremoniellen „Schwitzhütte“, die ein engagierter Teilnehmer angeboten hatte. Diese einfache Entscheidung zeigte uns, wie schwer es manchmal ist, Struktur, Führung und Gemeinschaft in Einklang zu bringen. Eine kleine „Revolution“ gegenüber der Moderation mündete in einem Fest der Selbstermächtigung mit Musik, Tanz und Trommeln.
In diesen Spannungen lagen wichtige Lernfelder. Statt sie als Hindernisse zu sehen, erlaubten wir den Konflikten, Tiefe und Wachstum zu schaffen. Lebendigkeit bedeutet, nicht nur die freudigen und leichten Momente zu erleben, sondern auch die schwierigen anzunehmen. Spannungen und Trigger gehören dazu. Das Entscheidende ist, wie wir damit umgehen: indem wir Perspektiven anhören, Bedürfnisse integrieren und manchmal alles verlangsamen, um Raum für die Vielfalt der Stimmen zu schaffen.
Raum für Heilung
„Ich nehme tiefe Heilung und Bewusstseinserweiterung auf vielen Ebenen mit, die lange nachwirken und Früchte tragen wird.“
Wir wussten: In einem sozialen Feld von Vertrauen, Verbundenheit und Authentizität treten oft Traumata und emotionale Wunden hervor, die nach Heilung suchen. Die Woche brachte daher viele bewegende Heilungsprozesse, in der Gruppe und in kleineren Begegnungen. Das Auftauchen von Triggern, heftigen Themen und Schattenseiten ist nicht notwendigerweise ein schlechtes Zeichen für eine Gruppe. Ganz im Gegenteil kann es bedeuten, dass so viel Vertrauen und Sicherheit hergestellt ist, dass sich nun auch die Schatten zeigen können um transformiert zu werden. Es geht darum, den auftretenden Themen liebevoll zu begegnen und ihre Informationen und Geschenke zu bergen.
Wichtig ist auch genug Raum für Integration und Regeneration. Die Schwitzhütte am letzten Abend war in dieser Hinsicht hilfreich, die Themen der Woche zu integrieren und zu erden. Dennoch würden wir uns in dieser Hinsicht beim nächsten Mal noch mehr Freiraum vornehmen und versuchen, die Woche noch regenerativer zu gestalten.
Ein Prozess des Gebens und Empfangens
„Ich habe mich selbst in dem gemeinsamen Feld als so "reich" empfunden. Ich hatte richtig Lust zu geben und konnte aus einer Leichtigkeit heraus ganz viel von mir einbringen.“
Der Geschenkkreis war ein Highlight der Woche. Jede Person hatte etwas mitgebracht - Materielles wie Immaterielles, z.B. Postkarten, Süßigkeiten, Bücher, Coaching-Sessions, Gedichte, Schmuck und ein Massageangebot. Dabei wurde spürbar, wie tief das Bedürfnis nach Ausdruck, Beitragen und auch Anerkennung in uns ist. Hier zeigte sich eine Wunde unserer Gesellschaft. Viele Menschen fühlen sich, als hätten sie nichts zu geben. Wir erlebten das Gegenteil: Der lebendige Fluss der vielfältigen Gaben und Fähigkeiten eine große Freude und Bereicherung.
Natur als Spiegel und Lehrerin
“Indem wir uns von der Natur getrennt haben, haben wir wirklich ein ganzes Universum verloren. Die Biokratie fühlte sich wie ein möglicher Weg an, unseren Platz wieder zu finden.”
Das „Biokratie-Parlament“ zeigte eindrucksvoll, dass eine wirklich lebendige Gesellschaft weit über die menschliche Gemeinschaft hinausgeht. In der Regel beziehen wir uns bei dem Begriff „Gesellschaft“ nur auf Menschen. Doch eine wahrhaft lebendige Gesellschaft integriert das gesamte Netzwerk des Lebens. Sie ist eine „Biokratie“ (gr.: bios = Leben/ kratie = Herrschaft), in der alle Lebewesen eine Stimme und Rechte haben. Eine Gesellschaft der lebendigen Verbundenheit erkennt, dass wir untrennbar in den Kreislauf des Lebens eingebettet sind und nur im Miteinander mit allem Lebendigen eine nachhaltige Zukunft gestalten können. Dafür kann es eine beeindruckende und öffnende Erfahrung sein, durch Methoden der systemischen Aufstellung Natur-Entitäten einmal eine Stimme zu geben.
Lebendigsein ist das ganze Spektrum
„Alle Persönlichkeitsanteile von mir waren willkommen, was wirklich ungewöhnlich ist, da ich im normalen gesellschaftlichen Kontakt das Gefühl habe je nach Kontext immer bestimmte Anteile von mir nicht zeigen zu können bzw. regelrecht verbergen zu müssen.“
Lebendigkeit bedeutet, die Fülle des Lebens in all ihren Facetten willkommen zu heißen. Im Laufe unserer Reise wurde deutlich, wie entscheidend es ist, diese Bandbreiten anzuerkennen und als Individuen und Gruppen die volle Breite dieser Polaritäten leben zu können.
Wir erkannten, dass das Navigieren einiger zentraler Spannungspaare bzw. Gegensätze für eine lebendige Kultur besonders wichtig sind:
Laut und leise
Schnell und langsam
Alleine und gemeinsam
Verbindlichkeit und Freiheit
Freiraum und Struktur
Geben und Nehmen
Innen und Außen
Durch das bewusste Aushandeln dieser Spektren innerhalb der Gruppe fanden wir in ein immer produktiveres, freieres Miteinander. Indem es uns immer besser gelang, diese Gegensätze bewusst zu machen und zu integrieren, schufen wir einen Raum, in dem sich alle wohlfühlten und mehr Verständnis füreinander entstand.
Pionier:innen der Lebendigkeit
Für uns als Reinventing Society hatte diese Woche einen besonderen Stellenwert. Zunehmend erkunden wir die Vision einer lebendigen Gesellschaft und was es bedeutet, diese zu gestalten und zu verkörpern. Sozial-ökologische Zukunftsvisionen sind ein wichtiger Teil unserer Arbeit, aber die eigentliche Herausforderung liegt darin, diese Visionen im Alltag umzusetzen. Als selbsterklärtes Reallabor erforschen wir seit unserer Gründung, wie wir unser System lebendig gestalten können und selbst „Realutopie" sein können. Auf dieser andauernden Lernreise sind uns einige Dinge klar geworden und diese Woche hat einige Erkenntnisse nochmal geschärft. Vier wollen wir hier anführen:
Um eine lebendige Kultur zu erschaffen, reicht es nicht, sie zu visionieren. Sie entsteht erst, wenn wir die Vision auf unsere direkten Alltagssituationen anwenden und neue Muster und Wege erkunden. Was wir mit „Pfadharmonie“ betiteln, ist für uns ein entscheidendes Kriterium unseres Wirkens geworden: Wie können wir die Logiken und Qualitäten unserer Vision auf dem Weg dahin bereits leben? Durch die pfadharmonische Verfolgung einer Vision werden die Pionier:innen selbst zur Botschaft und wirken insbesondere durch Ausstrahlung und beispielhafte Verkörperung.
Veränderung entsteht durch unsere Veränderungsbereitschaft. Was für viele eine Binsenweisheit sein mag, zeigt sich in der Realität oft als widerspenstige Veränderungsblockade. Wirkliche Veränderung geschieht im Außen und Innen, wobei letzteres gerne ausgespart wird. Dabei liegt hier die wahre Antriebskraft. Als Pionier:innen einer lebendigen Gesellschaft sind wir besonders gefordert, uns unseren Schattenseiten zu stellen.
Gleichzeitig ist es unsere Aufgabe, nicht nur neue Wege zu erkunden, sondern auch Brücken zwischen unterschiedlichen Perspektiven zu bauen. Das bedeutet, sich von Meinungen und dem Bedürfnis, recht zu haben, zu lösen und die Gräben zu überwinden, die zwischen „uns“ und „den anderen“ liegen. Eine lebendige Gesellschaft ist eine Gesellschaft für alle Wesen – und der schnellste Weg dahin ist es, trennende Denkweisen hinter uns zu lassen.
Unser Team war mit sechs Personen auf der Veranstaltung vertreten, wodurch wir sehr schnell und kraftvoll unsere über Jahre entwickelte Kultur von Wertschätzung, Vertrauen und Lebendigkeit etablieren konnten. Diese hohe Zahl an „Kulturträger:innen“ hat ermöglicht, ein kraftvolles soziales Feld aufzubauen und erfahrbar zu machen, was unsere beiden formellen Seminarleiter allein wahrscheinlich nicht so schnell hätten etablieren können.
Finanzieller Schlussakkord
„Am Ende bin ich aus dem Seminar gegangen mit einem Koffer voller wunderbarer Erinnerungsmomente und vielen neuen Herzensverbindungen. Der gemeinsame Reichtum, der sich über die Woche auf den verschiedensten Ebenen gezeigt und entfaltet hat, ist schwer zu erfassen – daher finde ich es besonders schön, die finanzielle Wertschätzung auf ebenso freie und lebendige Art und Weise in einem gemeinsamen und verbundenen Prozess abzurunden.“
Am Ende stand ein Geldprozess, in dem die Teilnehmenden selbstbestimmt entscheiden konnten, wie viel sie für die Moderation und Organisation, sowie für den Ort „Wir bauen Zukunft“ beitragen wollten. Dazu teilte die Moderation unterschiedliche innere Stimmen zum Thema Geld und stimmte die Gruppe damit auf die Komplexität des Themas ein, z. B. waren da Anteile der Freude am Empfangen, die Bedarfe der Organisation, die Lust am freien Schenken und weitere. Dies zeigte den Facettenreichtum an Haltungen, die wir zum Thema Geld in uns tragen. Durch diese Demonstration und die Erlaubnis, selbst auch unangenehme Gefühle zu Geld da sein zu lassen, fanden die Teilnehmenden recht schnell für sie stimmige Beträge, die offen geteilt wurden. Daraus ergab sich eine Summe, die sich für alle passend anfühlte.
Was bleibt, was kommt?
Die Woche zeigte, dass Lebendigkeit nicht nur aus Freude besteht, sondern auch Reibung, Schmerz und Heilung umfasst. Eine lebendige Gesellschaft ist bunt und facettenreich, laut und leise, alleine und gemeinsam. Viele Teilnehmende spürten auch in den Tagen danach noch die emotionale Wirkung der Reise. Großzügigkeit und Fürsorge waren einige der schönen Erscheinungen, die aus dieser Verbundenheit entstanden.
Diese Expedition hat uns allen gezeigt, was möglich ist, wenn wir die Vision einer lebendigen Gesellschaft ernst nehmen und sie beginnen zu leben. So sehr der geschützte Rahmen eines Seminars dabei hilft, Veränderung zu durchlaufen und sich auf Neues einzulassen, bleibt er auch künstlich. Die wahre Herausforderung besteht darin, die Erfahrungen in den Alltag einfließen zu lassen und zu forschen, wie die Entwicklung einer lebendigen Gesellschaft erfolgen kann.
Die Reise ist keineswegs zu Ende – sie hat gerade erst begonnen. 14 Pionier:innen tragen das Feuer der Lebendigkeit weiter in ihre Leben, als Botschafter:innen einer lebendigen Kultur, die bereits in vielen Ecken und Randzonen unser „normalen Welt“ erkennbar ist.
Wer Lust hat, bei der nächsten Runde dabei zu sein, hat als nächstes vom 13.-19. Januar 2025 Gelegenheit dazu. Mehr Infos hier.
Ein Gedicht eines Teilnehmers zur Woche:
Lebendigkeit, wo bist du?
In stillen Stunden such' ich dich,
Zwischen Pflicht und Alltäglichkeit.
Dein Flüstern, kaum vernehmbar,
Verhallt im Lärm der Zeit.
Bist du verborgen in den Blättern,
Die der Herbstwind sanft bewegt
Oder in den Augen eines Menschens,
Der staunend seine Welt entdeckt?
Vielleicht ruhst du im Herzschlag,
Der unbemerkt das Leben trägt,
Oder im zarten Morgennass,
Dass sich auf die Wiese legt.
Lebendigkeit, ich ahne dich
In jedem Atemzug.
Doch fass' ich dich, entgleitest du -
Ein flüchtiger Besuch.
So bleib ich Suchender nach dir,
In dieser Welt voll Hast und Tun.
Und hoffe still, dass du mich findest,
Wenn ich es am wenigsten erwart'.
Mit offenen Armen tret' ich dann hervor,
Verletzlich und doch stark wie nie.
Mein Herz, ein Spiegel deiner Seele,
Reflektiert das Leben, das ich seh'.
In jedem Blick, in jeder Geste, hier und dort,
Liegt Kraft, die aus der Tiefe springt.
Ich wage mich, zu enthüllen,
Und bin doch stark, wie du es willst.
Aus neuer Ehrlichkeit verbunden:
Mit klaren Worten, reinem Sinn,
Trag' ich dich nun in die Welt hinein.
Gesellschaft neu zu formen wage ich,
Lebendigkeit soll unser Leit-Stern sein.
Gemeinsam weben wir ein Netz,
Aus Wahrheit, Mut und Zuversicht.
So gestalten wir die Zukunft neu,
Dein Feuer in uns niemals erlischt.
Lebendigkeit, du bist:
Ein Raum, der stets aufs Neu' entsteht,
Eine Haltung, die mich trägt.
In jedem Schritt, in jedem Wort,
Bist du es, die mich und uns bewegt.
Wie ich aufsteh', wie ich gehe,
Wie ich spreche, mich ergebe,
In all dem bist du gegenwärtig,
Lebendigkeit - du bist….