„Je tiefer der Schmerz in dein Wesen schneidet,
umso mehr Freude kannst du fassen.“ - Khalil Gibran
In den letzten 10 Jahren habe ich eine tiefe Beziehung zu Trauer aufgebaut. Viele wären erstaunt, wenn sie wüssten, wie häufig ich weine oder zu Tränen gerührt bin. Womöglich würden diese denken, ich sei depressiv oder etwas laufe verkehrt in meinem Leben. Doch das Gegenteil ist der Fall. Momente der Trauer erlebe ich als Bereicherung für mein Leben, die mein Herz für die Welt öffnen. Je mehr sich mein Herz in den letzten Jahren geöffnet hat, desto leichter lasse ich mich berühren. Und gleichzeitig gibt es verdammt viel zu betrauern in der Welt.
Doch Trauer ist in unserer Gesellschaft häufig tabuisiert und mit Scham und Schwere behaftet. Wer in der Öffentlichkeit weint, wird oft als komisch oder schwach angesehen. Es ist an der Zeit, dies zu ändern und einen neuen gesellschaftlichen Umgang mit Trauer zu etablieren. Gerade in Zeiten von Krisen und dem Wandel alter Strukturen ist Trauer wichtiger denn je.
Mit diesem Artikel möchte ich daher erstens für einen offenen und lebendigen Umgang mit der eigenen Trauer einstehen und zweitens Erkenntnisse, Anregungen und Inspirationen für einen gesunden gesellschaftlichen Umgang mit Trauer teilen.
Trauer als gesundes und wertvolles Gefühl
Trauer ist keine Schwäche, sondern ein kraftvolles, gesundes Gefühl. Wenn wir trauern, öffnen wir unser Herz und beginnen, die Dinge so anzunehmen, wie sie sind. Trauer hilft uns daher, Frieden mit Verlusten, Tod, Enttäuschungen und den tragischen Momenten des Lebens zu finden. Dieser Prozess der Annahme ermöglicht tiefe Verbundenheit mit uns selbst, mit anderen und mit dem Leben an sich.
Anstatt Trauer zu unterdrücken oder zu vermeiden, sollten wir lernen, sie als wertvollen Teil unseres emotionalen Spektrums zu akzeptieren. Manche Menschen genießen diese tiefe Verbindung beispielsweise bei tragisch-schönen Filmen, die das Herz öffnen und zu Tränen rühren.
Wege zur Heilung und Verbundenheit
Wenn Menschen von Trauer überwältigt werden und den Tränen nahe sind, versuchen viele, diese Gefühle zu verhindern – als ob etwas Schlimmes passiere, wenn jemand weint. Es wird versucht, die Fassung zu wahren und „keine Schwäche“ zu zeigen oder die Trauer schnell zu verdrängen.
Doch manchmal ist es einfach schlimm. Dann ist es sinnvoll, Trauer zu fühlen. Die Trauer verlangt nichts weiter als Raum. Sie zeigt sich aus gutem Grund und geht in der Regel von alleine, wenn sie fertig ist. Nicht die Trauer selbst ist das Problem, sondern ungefühlte Trauer. Aktuelle Traumaforschung zeigt, dass viele Depressionen durch feststeckende Emotionen, oft Trauer und Wut, verursacht werden. Wenn Gefühle frei fließen können, gibt es keine Depressionen. Dann gibt es zeitweise sicherlich mal Trauer, Wut, Verzweiflung, Angst und Schmerz, aber schnell auch wieder Freude, Lebenslust und Leichtigkeit. Wenn die Trauer fließen kann, ist auch die Freude nicht weit – diese Erfahrung mache ich immer wieder. „The deeper the sorrow, the greater the joy.“
Trauer zuzulassen kann beängstigend wirken. Manche fürchten, von den Emotionen überwältigt oder in eine Spirale von Schmerz und Hoffnungslosigkeit gezogen zu werden. „Es ist doch schon alles so schwer, muss ich da jetzt auch noch die Trauer auf mich nehmen?“ Ja, gerade dann! Trauer ist nicht der Feind, sondern eine Tür zur Heilung. Sie hilft, das emotionale System zu „resetten“ und schafft Raum für Neues. Wenn Trauer gefühlt und verarbeitet wird, ist wieder Platz für Leichtigkeit und Freude. Die Angst davor, sich zu verlieren, sitzt tief. Umso wichtiger ist es, Trauer in Gemeinschaft zu erleben und sich durch andere gehalten zu fühlen. Es ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Mut, sich auf diesen Prozess einzulassen.
"Our ability to receive love is proportional to our capacity to welcome all of who we are... The work of the mature person is to carry Grief in one hand and Gratitude in the other and be stretched large by them. How much sorrow can I hold? That's how much gratitude I can give." - Francis Weller
Trauer in Gemeinschaft: Die Kraft gemeinsamer Tränen
Wenn Menschen zusammenkommen, um ihre Trauer zu teilen, entsteht ein Raum der Verbundenheit, der uns stärkt und trägt. In einer vertrauten Gruppe mit der eigenen Trauer gesehen und gewürdigt zu werden ist unglaublich heilsam. Das habe ich selber kürzlich bei einer „grief ceremony“ in Berlin erfahren, bei der 35 Menschen zusammenkamen, um ihre Trauer zu teilen. Manche Intensitäten von Trauer können wir alleine schlichtweg nicht halten und brauchen die Unterstützung anderer, damit das Herz sich öffnen kann und die tiefsten Tränen fließen können. Viele alte und indigene Kulturen hatten daher Praktiken, Orte und Rituale, um gemeinsam zu trauern und tragische Ereignisse zu bewältigen und „durchzufühlen“.
Es ist daher heilsam, andere zu ermutigen, ihre Trauer zuzulassen und sie einfühlsam zu begleiten. Trost zu spenden und jemanden durch seine Trauer zu führen, braucht oft nicht viel – nur Präsenz und Mitgefühl. „Alles ist gut. Deine Trauer ist willkommen. Ich bin da und bleibe bei dir.“ Wer weiter gehen mag, kann sich erkundigen, ob der andere etwas braucht und anbieten, den anderen im Arm zu halten oder auch nur eine Hand auf die Schulter zu legen. Körperkontakt ist bei Trauer oft sehr wohltuend und nährend, sofern Scham dem nicht im Weg steht.
Trauer für die deutsche Geschichte
Die Traumata der Weltgeschichte, insbesondere durch die beiden Weltkriege, haben weltweit unermessliches Leid verursacht. Besonders die Opfer von Verfolgung und Gewalt, die durch das nationalsozialistische Regime verursacht wurden, verdienen unsere Anerkennung und Trauer. Ihre ungeweinten Tränen bleiben oft unbetrauert, und es ist wichtig, diesem Leid Raum zu geben.
Gleichzeitig können wir uns als Deutsche nur dann voll mit unserer Geschichte und den eigenen Verlusten auseinandersetzen, wenn wir auch die Trauer um das, was unsere Vorfahren erlebt haben, zulassen. Nach dem Krieg blieb für viele Deutsche kein Raum für Trauer – das Land musste wiederaufgebaut werden, und der Schmerz wurde oft verdrängt.
Dieser unterdrückte Schmerz wirkt bis heute, nicht nur in uns, sondern auch im kollektiven Gedächtnis. In den letzten Jahren konnte ich regelmäßig spüren, wie tief die unverarbeiteten Traumata meiner Ahnen in mein eigenes Leben einwirken. Durch mich ist viel ungefühlte Trauer meiner Großeltern geflossen. Auch wenn sie nicht mehr leben, fühle ich mich ihnen heute durch diese geteilte Erfahrung sehr verbunden.
Was wäre, wenn wir als Gesellschaft diese Trauer nachholen und dabei unser Herz nicht nur für das Leid der Opfer unserer Geschichte öffnen, sondern auch für die Verluste und Entbehrungen unserer Vorfahren? Vielleicht könnte gerade dadurch eine tiefere, ehrlichere Auseinandersetzung mit dem von uns verursachten Leid entstehen – und mit ihr die Möglichkeit, die Welt heute mit mehr Mitgefühl, Leichtigkeit und Herzlichkeit zu gestalten.
Climate Grief – Trauer als Motor für positive Zukunftsvisionen
Trauer ist nicht nur ein individueller, sondern auch ein kollektiver Prozess. In Zeiten der Klimakrise erleben viele Menschen Climate Grief – die tiefe Trauer über den Verlust von Ökosystemen, Arten und einer lebenswerten Zukunft. Diese Trauer kann überwältigend wirken, birgt jedoch auch enormes Potenzial: Durch das Fühlen dieser Trauer entsteht Raum für eine tiefe Verbundenheit mit der Erde und das Bedürfnis, aktiv für den Schutz und die Regeneration unseres Planeten einzutreten. Joana Macy und ihre Arbeit zu „The Work That Reconnects“ bieten inspirierende Wege, diese Trauer in positive Zukunftsvisionen zu verwandeln. Auch bei Reinventing Society arbeiten wir mit der Kraft solcher Visionen und möchten Menschen ermutigen, die Trauer anzunehmen und als Grundlage für eine neue, regenerative Zukunft zu nutzen.
Eine Einladung
Es ist an der Zeit, dass wir in unserer Gesellschaft den Umgang mit Trauer neu gestalten. Trauer gehört nicht in den Keller, sondern mitten ins Leben. Sie ist kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Ausdruck unserer Menschlichkeit. Wir sollten den Mut haben, unsere Trauer offen zu zeigen, über sie zu sprechen und sie bewusst zu erleben. Es ist heilsam, sich mit vertrauten Menschen zum gemeinsamen Trauern zu treffen und die Tränen anderer willkommen zu heißen. Wenn wir unsere Trauer öffentlich machen, geben wir auch anderen die Erlaubnis, ihre Gefühle zuzulassen.
Lasst uns vielfältige gesellschaftliche Formate, Orte und Rituale für einen gesunden Ausdruck von Trauer zu schaffen, in denen diese nicht isoliert, sondern in Gemeinschaft durchlebt werden kann. Es braucht mehr Trauerzeremonien, Klimatrauer-Workshops und „Häuser der Tränen“. Diese Angebote sollten fester Bestandteil unserer Kultur werden, um Trauer als lebenswichtigen Teil des menschlichen Erlebens anzuerkennen.
Wenn wir uns die Welt anschauen, dann gibt es verdammt viel zu betrauern. Indem wir die Trauer annehmen, schaffen wir Raum für Heilung, Verbundenheit und Frieden in der Welt. Damit wir eine schönere Welt aufbauen können, brauchen wir offene Herzen. Die Trauer kann uns den Weg weisen.
Weiterführende Ressourcen
Buchtipp: „The Smell of Rain on Dust: Grief and Praise“ - by Martin Prechtel
Buchtipp: „Active Hope: Der ökologischen Krise mit kreativer Kraft und Resilienz entgegentreten“ von Joana Macy
Buchtipp: „Gefühle & Emotionen - Eine Gebrauchsanweisung: Wie emotionale Intelligenz entsteht“ von Vivian Dittmar
Grief Cafés: Räume für Trauer und Gemeinschaft – Ein Überblick über das Konzept der Grief Cafés, in denen Menschen zusammenkommen können, um ihre Trauer zu teilen.
·Die geführte RAIN Meditation (Recognize, Allow, Investigate, Nurture) von Tara Brach leitet an, Achtsamkeit und Mitgefühl für schwierige Emotionen aufzubringen (auf Englisch): https://www.youtube.com/watch?v=W8e_tAEM80k
Gedicht: “Freude und Leid” von Khalil Gibram
Deine Freude ist die Enthüllung deines Schmerzes.
Und derselbe Brunnen, aus dem dein Lachen rinnt,
war oft mit deinen Tränen gefüllt.
Wie könnte es auch anders sein?
Je tiefer der Schmerz in dein Wesen schneidet,
umso mehr Freude kannst du fassen.
Wurde nicht derselbe Krug, der deinen Wein hält,
im Töpferofen gebrannt?
Und wurde nicht das Holz der Laute, die deinen Geist besänftigt,
mit Messern ausgehöhlt?
Wenn du fröhlich bist, sieh tief in dein Herz,
und du wirst entdecken, dass nur das,
was dir Schmerz bereitet hat, dir nun Freude macht.
Wenn du betrübt bist, sieh noch einmal nach deinem Herzen,
und du wirst bemerken, dass die Wahrheit, um die du weinst,
dich vorher erfreut hat. Einige von Euch sagen:
„Die Freude ist größer als der Schmerz.”
Andere sagen:
,“Nein, der Schmerz ist größer als die Freude."
Ich aber sage euch, sie sind untrennbar. Sie kommen gemeinsam,
und wenn eines der beiden mit dir auf dem Tisch sitzt, vergiss nicht,
dass das andere in deinem Bett schläft. In Wahrheit bist du die Schalen einer Waage,
zwischen Freude und Leid aufgehängt.