Die Gesellschaft ist zunehmend gespalten, die Demokratie steht unter Beschuss und die AfD und rechtspopulistische Bewegungen sind im Aufwind. Diesen besorgniserregenden Entwicklungen wurde am 11. April 2024 in Berlin ein experimenteller Workshop mit 12 Teilnehmenden gewidmet, der interessante Erkenntnisse hervorbrachte.
Die Forschungsfragen
1) Wo und wie kommen wir individuell mit dem Thema Rechtspopulismus in Berührung? Welche Auswirkungen hat es auf unsere Beziehungen? Welche Strategien und Muster des Umgangs haben wir? Was sind körperliche Empfindungen, wenn wir mit dem Thema in Kontakt sind?
2) Welches systemische Bild zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Rechtspopulismus und AfD stellt sich dar? Wie sind die strukturellen Dynamiken, Beziehungen und Reaktionsmuster?
3) Was könnten effektive, systemische Umgangsweisen sein? Welche Interventionen braucht es, damit wir als Gesellschaft wieder zusammenfinden?
Rahmen und Methodik
Anspruch war es, keine Sach-Diskussionen zu führen, sondern auf einer tiefen, systemischen Ebene strukturelle Dynamiken und Möglichkeiten zu erforschen. Methodisch wurde dazu mit einer Mischung aus individueller Reflexion, Körperarbeit, systemischen Aufstellungen, Social Theater und Deep Democracy gearbeitet. Der Workshop war für Menschen angedacht war, die dem Thema Rechtspopulismus/der AfD grundsätzlich kritisch gegenüberstehen und effektive Umgangsweisen suchen. Für zukünftige Forschungen wäre eine direkte Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Vertreter:innen rechter Positionen interessant, um die Authentizität von Befindlichkeiten, Zuschreibungen und gesellschaftlichen Dynamiken zu überprüfen. Natürlich können die Erkenntnisse aus einem einzelnen experimentellen Workshop nicht 1:1 auf die Realität übertragen werden und sollten als Inspiration, Anregung und Perspektiverweiterung verstanden werden. Eigene Erkundungen, Überprüfungen und weitergehende Forschungen sind daher herzlich eingeladen.
Erfahrungen und Erkenntnisse
Individuell zeigten sich unterschiedliche Betroffenheiten und Berührungspunkte mit dem Thema. Manche Teilnehmende haben in ihrem nahen sozialen Umfeld Menschen, die sich von rechten Inhalten angezogen fühlen und/oder die AfD wählen, was emotional herausfordernd ist. Das Thema wird dann entweder bewusst vermieden, um die Beziehung nicht zu belasten oder führt zu Kontaktabbruch. Andere haben weniger direkte Berührungen aber spüren politischen Handlungsdruck. Bei allen Teilnehmer:innen brachte das Thema große emotionale Ladung mit sich und es zeigten sich starke körperliche Anspannung und unangenehme Gefühle, z.B. Enge in der Brust, Wut im Bauch, Trauer, körperlicher Erstarrung etc.
Spannend war eine systemische Aufstellung im Raum, bei welcher das Konfliktbild der Gesellschaft im Kleinen nachgestellt wurde (Die Systemaufstellung ist ein Verfahren, in dem Personen stellvertretend für Mitglieder oder Aspekte eines sozialen Systems in einem realen Raum repräsentativ zueinander in Beziehung (auf-)gestellt werden und dann die Dynamik der Beziehungen, Empfindungen und Bedürfnisse untersucht wird). Im Workshopraum wurde dazu eine "rechte Ecke" bestimmt und ein paar Personen stellten sich als Repräsentant:innen in diese hinein, während sich die Anderen als restliche Gesellschaft dazu im Raum positionierten. Erkenntnisse daraus:
Die Stellvertreter der „Rechten“ wirkten nach außen stark und selbstbewusst (breiter Stand, verschränkte Arme, harter Gesichtsausdruck), aber die Repräsentant:innen fühlten sich innerlich schwach und kurz vorm Kollabieren. Sie hatten das Gefühl auf keinen Fall Schwäche zeigen zu dürfen und sich daher aufplustern zu müssen.
Die Repräsentanten der „Rechten“ wirkten von außen als kohärente, vereinte Gruppe, fühlten sich jedoch nicht wirklich miteinander gut verbunden und eher vereinzelt.
Die restliche Gesellschaft fühlte sich auch vereinzelt, kraftlos und nicht wie ein gemeinsames Ganzes. Es fehlte Verbindendes, gemeinsame Ausrichtung und positive Narrative. Insofern bot die restliche Gesellschaft den „Rechten“ auch keine wirklich verlockende Alternative.
Von der „rechten Ecke“ aus wirkte die „restliche Gesellschaft“ wie eine harte, vorwurfsvolle Front. Daher schien der Weg zurück in die Gesellschaft verwehrt. Wenn man einmal in der Ecke war, kam man daher kaum wieder heraus.
Bei den „Rechten“ steckte viel Ladung und Frustration über gesellschaftliche Fehlentwicklungen. Als dies mit großer Wut einmal ausgedrückt wurde, wurde von den anderen nicht wirklich zugehört und dies eher als unangenehme Information weggewischt oder überheblich ignoriert. Bei anderen löste der Wutausbruch jedoch auch große Angst aus.
Bei den Teilnehmenden gab es übereinstimmend die Wahrnehmung, dass sehr viel gesellschaftliche Energie in dem Thema Rechtspopulismus gebunden ist. Die „rechten“ Repräsentant:innen hatten auch das Gefühl, im gesellschaftlichen Rampenlicht zu stehen und im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit zu sein. Nach Einschätzung der Teilnehmenden stecken ca. 80% der gesellschaftlichen Energie in dem Themenkomplex fest und binden somit viel Kraft, die nicht für Neues zur Verfügung steht (wie z.B. für die dringend notwendige öko-soziale Transformation).
Als sich eine Gruppe aus restlichen Gesellschaft von der „rechten Ecke“ abwandte und sich „etwas Neuem und Schönem“ zuwandte, war das zwar etwas erleichternd, wirkte aber gleichzeitig weder angebunden, noch kraftvoll, weil der Fokus und die gesellschaftliche Energie dafür fehlten.
Die gesamte Konstellation schien aus systemischer Perspektive hochkomplex, vielschichtig und festgefahren. Deutlich spürbar war daher große Spannung im Raum und die gleichzeitige Überforderung aller Personen. Es schien klar ersichtlich, dass es keine einfachen, schnellen Lösungen gibt.
Rechtspopulismus als gordischer Knoten
Der Themenkomplex „Rechtspopulismus und AfD“ speist sich aus zahlreichen gesellschaftlichen Spaltungen und Konflikten. Wir identifizieren folgende:
Der Ost-West-Konflikt & Folgen der Wiedervereinigung
Der Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg
Die Corona-Krise
Ökonomische Ungleichheit
Politische Unzufriedenheit
Umgang mit Einwanderung
Die Klimakrise
Umgang mit Diversität
Uvm.
Rechtspopulismus erscheint daher wie ein hochkomplexer gordischer Knoten. Unentwirrt ist dieser kaum zu lösen.
Lösungsimpuls: In der Ruhe liegt die Kraft
Als zum Ende des Workshops nach Lösungen und heilenden Impulsen für das festgefahrene System gesucht wurde (noch in der gesellschaftlichen Aufstellung stehend) legten sich ein paar Teilnehmende aus einem inneren Impuls heraus zu Boden. Dies weckte erstmal Verwunderung. Bei manchen kamen Assoziationen von Tod und Weltkriegs-Schlachtfeldern auf. Die Ruhenden berichteten jedoch, dass es sich dort liegend sehr gut, entspannt und durchaus lebendig anfühle. Als sich nach und nach weitere Teilnehmende zu Boden legten, löste sich die verhärtete Front langsam auf und verwandelte sich in ein Feld der Ruhenden. Im starken Kontrast zur Anspannung der vorherigen Konstellation, war nun merklich Entspannung und Leichtigkeit eingekehrt. Die Ruhenden berichteten, dass erst jetzt Kapazität sei, innere Anbindung zu finden und mit der Natur in Verbindung zu treten. Diese Feststellung löste Trauer aus.
Dieses unerwartete Lösungsbild irritierte zunächst. Der Verstand möchte etwas tun, einen klaren Plan haben und „spektakulärere“ Lösungen. „So einfach kann es doch nicht sein.“ Doch wir leben in einer hochkomplexen Welt, in der lineare Pläne zu kurz greifen und die Ratio allein überfordert ist. Aus systemisch-struktureller Perspektive erscheint das Lösungsbild des erstmal-zur-Ruhe-Kommens daher durchaus sinnvoll und kraftvoll. Innere Angebundenheit und Ruhe sind die Grundlage, um die hohe Komplexität des Systems erfassen zu können und dann einen sinnvollen Umgang zu finden. Aus einer Anspannung und Stress heraus erfolgt hingegen hektisches Reagieren, welches in dem System verhaftet bleibt und es nicht zu transformieren vermag. Viele Teilnehmenden konnten die Stimmigkeit des Lösungsbildes daher schließlich nachempfinden und waren berührt von der Erfahrung.
Kollektive Trauma
Bei der Betrachtung des Lösungsbildes drängte sich die schmerzhafte Einsicht auf, dass Deutschland im Grunde seit dem Ende des 2. Weltkrieges noch nicht zur Ruhe gekommen ist. Erst musste das Land wieder aufgebaut werden und es war schlichtweg kein Raum für Trauer und Aufarbeitung all der Übel des Weltkrieges. Dann wurde dieser Modus des immer-weiter-Machens und Funktionierens zum Normalzustand, wahrscheinlich auch als Betäubungs- und Bewältigungsstrategie für all die abgespaltenen Ängste, Schuldgefühle und Traumata. Wer sich heute mit persönlicher Heilung und Traumatherapie beschäftigt, landet fast unweigerlich auch bei Weltkriegs-Traumata in der eigenen Familie, die bis heute nachwirken und sich als Ängste, Taubheit, Unverbundenheit, Abwesenheit von Leichtigkeit oder Depressionen ausdrücken. Auch das heutige Wachstumsdogma und viele düstere Ausprägungen unserer Konsum- und Suchtgesellschaft deuten auf die schwelenden Traumata unter der vermeintlich heilen Oberfläche unserer Gesellschaft hin.
Vielleicht ist es daher wirklich an der Zeit, mit all dem hektischen Tun aufzuhören und endlich zur Ruhe zu kommen. Zwei nicht vollständig aufgearbeitete Weltkriege, eine Pandemie und weitere Kriege und Traumata haben uns kollektiv erschöpft. Für viele Menschen gibt es vermutlich viel zu betrauern – die Schwere unserer deutschen Geschichte, Traumata aus der eigenen Kindheit und Lebensgeschichte und natürlich die überwältigenden Probleme unserer Gegenwart.
Wer im fight-or-flight Modus oder sogar (teilweisen) Trauma-Freeze ist, ist innerlich verschlossen und unfähig zu Mitgefühl und Verständnis für andere Perspektiven. Damit Verbindung und Verständnis mit anderen möglich ist, braucht es ein entspanntes Nervensystem. Die entsprechende Selbstregulation wiederum erfordert ein Gefühl der Sicherheit, gehaltene Räume und emotionales „Entladen“. Dafür braucht es vermutlich auch neue kollektive Räume und Formate.
Resümee und weiterführende Betrachtungen
Wenn kommunal eine rechte Übernahme droht, die Lage bei der Unterkunft für Geflüchtete eskaliert und Menschen akut bedroht werden, dann braucht es schnelles, entschlossenes Handeln. Doch bei kurzfristigen Symptombekämpfungen und Flagge zeigen gegen Rechts darf es nicht bleiben. Gesamtgesellschaftlich braucht es strukturelle und systemische Lösungen, um das Problem an der Wurzel zu erfassen und zu beheben. Dabei können das Erstarken der AfD und rechtspopulistischer Positionen als gordischer Knoten verstanden werden, der sich aus vielen gesellschaftliche Konflikten und Spannungsfeldern speist. Es ist daher sinnvoll, sorgfältig zu differenzieren. Ein frustrierter Arbeiter, der sich von den politischen Eliten nicht gehört und abgehängt fühlt und daher aus Protest AfD wählt, ist etwas ganz anderes als eine Klimaleugnerin oder ein Neo-Nazi. Rechtspopulismus und AfD erfordern daher entsprechend differenzierte Umgangsweisen.
Einige systemische Maßnahmen wie z.B. Demokratie-Updates, die Aufarbeitung von politischen Fehlern während der Ost-Integration oder der Corona-Krise oder die Entwicklung überzeugender positiver gesellschaftlicher Zukunftsvisionen sind sicherlich sinnvoll, um Rechtspopulismus den Boden zu entziehen.
Gleichzeitig ist die Gesellschaft mit dem „gordischen Knoten“ von Rechtspopulismus und den vielen weiteren Krisen gegenwärtig so festgefahren und überfordert, dass ein kollektives zur-Ruhe-kommen hilfreich erscheint, um Klarheit hinsichtlich des Kerns der Krisen und effektiver systemischer Antworten zu finden.
Wir sind kollektiv sehr darauf gepolt, für die Erreichung von Zielen hart arbeiten und kämpfen zu müssen. Wenn etwas nicht gelingt, versuchen wir es dann mit mehr Anstrengung, mehr Einsatz, mehr Kampf. Die Effektivität dieses Vorgehens scheint bei vielen gesellschaftlichen Krisen mittlerweile seine Grenzen erreicht zu haben. Vielleicht ist weniger jetzt mehr. Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir uns kollektiv mehr Leichtigkeit und Ruhe erlauben, damit Raum für Heilung, für Verbindung und für Klarheit entstehen kann. Denn in der Ruhe liegt die Kraft.
Buchtipp zu Trauma: „Sprache ohne Worte: Wie unser Körper Trauma verarbeitet und uns in die innere Balance zurückführt“ von Peter A. Levine